Pilgern IV: Ins Fleisch

Mein heutiges Reisen ist immer auch eine Art Pilgerfahrt. Nicht deswegen, weil immer ein Wallfahrtsort das Hauptziel wäre. Obwohl Paulus in Damaskus und Petrus in Antiochien, Felsenkirchen in Lalibella, Äthiopien, und die Marienkirche in Ephesus eigentlich Wallfahrtsorte sind oder waren. Oder die Moldauklöster in der Bukowina oder der Erscheinungsberg in Medujorje. Sondern mehr noch wegen des Unterwegsseins. Die Neugier und Sehnsucht nach dem Reiseziel, und die schrittweise Annäherung. Ich mache keinen Landeanflug, ich lasse mich nicht überrumpeln mit der Ankunft.

Mein Reisen muß auch für Begegnungen und Stationen Zeit haben. Deshalb fahre ich auf landesübliche Weise, also mit öffentlichen Bussen oder mit dem Zug, per Schiff oder auch einmal per Anhalter. Und natürlich immer auch zu Fuß. Als ich heuer im August von Temeswar über die Grenze in die Woiwodina kam, hatte ich Stunden zu warten an Straßenkreuzungen, wo einmal jede Viertelstunde etwas vorbeikam, meistens ein Traktor oder ein Lastwagen oder ein vollbesetzter Fiat oder ein halbleerer PKW in die falsche Richtung. Ich konnte das brettlflache Land studieren, die Mais- und Weizenfelder und die Allee entlang der Straße, die gentechnisch veränderten Saatguttafeln von Pioneer oder die Mückenschwärme in der unbewegten Gluthitze.
Und wenn es schwierig wird und du schon an ein Scheitern zu denken beginnst, dann ändert sich mit einemmal das Tempo, als wäre ein Wind aufgekommen, und am Abend desselben Tages duscht du schon behaglich in einem freundlichen Hotel am Stadtrand von Novi Sad, und machst sogar noch einen Abendspaziergang in der belebten Stadt mit dem wunderbaren Speiseeis.

So wie Weinlesen ein langsames Gehen ist, so lese ich mich an die Orte und Städte heran, mit Romanen, die dort spielen oder geschrieben wurden, mit Reiseführern und Geschichtsbüchern, mit der heiligen Schrift. So kam ich letzten Sommer ins rumänische Ruse an der Donau, weil es das Rustschuk von Elias Canetti ist, oder nach Cernovic, wo Paul Celan geboren wurde. So erschließen sich mir nicht nur die Städte und Länder, sondern die Orte erschließen mir die Literatur. Als ich am Musa Dagi stand, öffnete sich ein neuer Blick auf Franz Werfels Roman, und als ich zurückkehrte nach Antakia, bekam ich neue Augen für Petrus und Paulus, die beide in dieser Stadt waren und auch aufeinander trafen, nicht immer eines Sinnes.

Manch solcher Blick hat schon für Mitreisende ein Leben verändert. Pilgern ist nämlich gefährlich: manch einer ist verändert zurückgekommen, bekehrt, und nennt jetzt in seiner religiösen Biographie diesen Blick als Anfang, was er da gesehen hat, was ihn berührt, ergriffen: die Ausgesetztheit der Apostel, oder die gnadenlose Verfolgung der Armenier, unserer Glaubensbrüder. Der Gang Jesu durch die Straßen der Jerusalemer Altstadt mit dem Kreuz, oder der unterirdische Blick auf das Grab des Petrus. Die verstümmelten Bettler Äthiopiens oder der Blick vom Psiloritis über ganz Kreta.

Wenn man das Geführtsein als ein Pilgern ansehen mag, und das Ergriffensein im Ausgesetzten, dann werden die Mühen des Reisens und manches Risiko zu bloßen Etappen der Annäherung. Und wer sich von dem Mensch Gewordenen geführt weiß, wer aus seiner Hand entgegennimmt, was er zum Leben braucht, der wird im Pilgern ihm näher kommen, diesem ins Fleisch Gekommenen.

Pilgern als Ins-Fleisch-Kommen: Es könnte sein, dass der Papst das so gemeint hat, es könnte sein, dass auch er selbst ein solcher Pilger ist, er, der Hirt der Kirche Christi.
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Sobald sich aber einer dem Herrn zuwendet, wird die Hülle entfernt. Der Herr aber ist der Geist, und wo der Geist des Herrn wirkt, da ist Freiheit.

2 Kor 16f

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