Freitag, 8. Februar 2008

Pilgern I: Der Papst in Mariazell

Am Fest zu Mariä Geburt am 8. September 2007 feierte Papst Benedikt XVI. in Mariazell mit Pilgern und Vertretern aus Politik und Gesellschaft, vom Klerus und von Laienorganisationen sowie von allen Pfarren Österreichs eine heilige Messe.
Bei der Predigt sprach er vom Pilgern an diesen Ort seit 850 Jahren und von der Pilgerschaft der Gläubigen seit den Tagen Jerusalems. Von Abraham führe ein Pilgerweg bis zu Jesus, sagt der Papst den tausenden Pilgern, und nennt damit das Ziel der Pilgerfahrt: Jesus begegnen im Heiligtum, im Weg dorthin, in den Umwegen, im Aufbruch vom gewöhnlichen Leben.
Am Anfang des Pilgerns stehe das unruhige Herz. Das Ungenügen mit der zu kleinen Welt des täglichen Lebens, die Ahnung eines anderen. Der Papst nennt das unruhige, offene Herz den Ursprung des Pilgerns, seit Abraham. Das Nichtbegnügen mit dem, was alle tun und denken. Das Wissen um die Einzigkeit des Gottes, der uns sein Antlitz zuwendet, und die Sehnsucht nach seiner Nähe.
Der Papst schaut auf das Gnadenbild von Mariazell und sieht das Jesuskind im Arm seiner Mutter, und er spricht von der Sehnsucht nach dieser innigen, umschlungenen Nähe. Aber auch das Bild des Gekreuzigten über dem Hochaltar zeigt denselben Jesus, der nicht mit weltlicher Macht, sondern in demütiger Liebe uns erlöst hat, und diese Liebe uns zeigt und schenkt.

Benedikt XVI. ist ein Papst des scharfen, klaren Denkens. Unerschrocken widerspricht er den Relativierungen des modernen Denkens und weist auf die eine Wahrheit hin, die uns in Gottes Offenbarung unwiderruflich gegeben ist. Aus der Erfahrung der kontingenten Welt folgt die Notwendigkeit eines souveränen Gottes, aus der Erfahrung der Zerrissenheit die Notwendigkeit der Einheit, so lehrten schon die Griechen. Der Papst appelliert an den klaren Verstand und das schlußfolgernde Denken. – Aber Pilgern ist doch ganz anders!
Wer Tag für Tag unterwegs ist, zu immer unbekannten Orten hin, aufmerksam für die Zeichen am Weg oder versunken in die eigenen Fragen und Sorgen: der denkt anders. Pilgerndes Denken ist assoziativ, verschlungen mäandernd, zuweilen labyrinthisch. Manchmal spontan einsichtig, wenn während des gleichförmigen Gehens unter der Oberfläche zusammengehörige Dinge zusammengefunden haben: dann schreckst du auf. Aber es gibt auch die Strecken der Langeweile, der Mühen, der Unsicherheit, die Zeiten, wo man ringt um Orientierung, wo Tasten ist und Fragen und Ringen, und dann oft ein versuchter Weg ohne Gewißheit, nur auf Probe. Wer sich geführt weiß, der meist erst im Nachhinein, erst hinterher zeigt sich der Sinn der Umwege, vom erreichten Ziel aus. Ergriffen ist der Pilger immer wieder, durch eine Begegnung unterwegs, durch eine Erkenntnis, vielleicht auch durch die Schönheit des Ziels, das er dann doch erreicht hat. Er-griffen und be-rührt.

Pilgern II: Kärntner Wallfahrten

Seit September 2005 wird der Hemma-Pilgerweg wieder neu begangen von Crna über Bleiburg, Völkermarkt, Diex, Eberstein, Guttaring, Friesach nach Gurk. Kärntner Zubringer zum Jakobsweg gehen von Lavamünd über St. Jakob im R. durch Villach St. Jakob nach St. Jakob ob Ferndorf und über Berg i.Dr. weiter nach Lienz. Sehr traditionelle Wallfahrten gehen nach Maria Luschari oder nach Brezje (Maria Hilf). Aber auch Heiligenblut, Maria Luggau, Maria Wörth, Maria Saal, Hemmaberg, Maria Loretto und Maria Rain sind bekannte Wallfahrtsorte. An 36 feststehenden Tagen im Jahr sind Wallfahrten zu bestimmten Orten in Kärnten bekannt, 25 bewegliche Feste sind Anlaß für Wallfahrten, 10 Wallfahrten verdanken sich einer wundersamen Rettung vor schweren Krankheiten und Seuchen. 40 Marienwallfahrtsorte in Kärnten bieten Monatswallfahrten oder andere Zuflüchte. Nicht zu vergessen sind der Vierbergelauf sowie die jährliche Dreiländerwallfahrt mit wechselnden Zielen in Slowenien, Friaul und Kärnten.

Pilgern III: Fußweg und Atem

Meine persönlichen Pilgerreisen sind selten Massenereignisse gewesen. Kurz nach der Schule, in den ersten Studienjahren, bin ich schon nach Mariazell gegangen, in den kalten Ostertagen von Wien - Perchtoldsdorf über Ochsattel und Gscheid in drei Tagen, mit der Badener Studentengemeinde, unter der Leitung meines ehemaligen Religionslehrers und Studentenpfarrers. Da war manchmal auf den Bergen Schnee, da lag aber auch schon Frühlingswind auf den grauen erdigen Hangwiesen. Da lernte ich erstmals die modernen religiösen Lieder kennen, die mit Gitarre begleitet mehrstimmig gesungen wurden, da lernte ich viele junge, fröhliche und ernsthaft christliche Menschen kennen, ich sah fürsorgliche Umgangsformen und wurde freundschaftlich aufgenommen. Mehr als die Mariazeller Basilika selbst beeindruckte mich unsere Meßfeier, denn wir saßen vor dem Gnadenaltar im Altarraum auf dem Teppich, dicht nebeneinander, und sangen unsere Lieder. Das waren Erfahrungen meines jungen erwachsenen Lebens.

Jahre später bin ich, bereits als Seminarist, mit einem anderen Priester nach Lourdes gefahren. Die Busreise war für mich zuerst noch gewöhnungsbedürftig, das lange Sitzen. Aber Einsiedeln in der Schweiz, die Begegnung mit Klaus von der Flüe und, am nächsten Tag, mit dem Pfarrer von Ars, waren schon Herausforderungen. Es wurde auch nicht auf Frömmelei, sondern auf kritisches Erkennen Wert gelegt: Wer waren diese Heiligen wirklich, was hatten sie ihrer Zeit/ was unserer Zeit zu sagen? Die Erfahrung ihrer Lebensräume bei einem Spaziergang ermöglichte eine Vorstellung ihres Lebens und Denkens. Aber dann Bernadette in Nevers, im Kloster, wo sie gelebt hatte, wo sie, 35jährig, gestorben ist, wo wir zeitig in der Früh Messe feierten: als wäre sie dort immer noch umstritten, ihre Visionen angezweifelt, so unbekümmert schien das Klosterleben einen Bogen um uns zu machen – oder waren wir nur eine der vielen Pilgergruppen. Nach Lourdes zu las ich den Busreisenden stundenlang aus Franz Werfels Lied von Bernadette vor, was der Dichter in Erfüllung seiner Gelübde geschrieben hatte, nachdem er auf seiner abenteuerlichen Flucht vor den Nazis über die Pyrenäen gerettet wurde. In Lourdes selbst sahen wir das Cachote, in dem die Familie Soubirous armselig gelebt hatte, gingen am Fluß Gave de Pau, wo Bernadette Holz gesammelt hatte, und kamen zur Grotte Massabielle, wo ihr Maria erschienen war, die sich als unbefleckte Empfängnis vorgestellt hatte. Am Fackelumzug mit den vielen Menschen aus aller Welt nahmen wir teil, mir fielen die unzähligen Kranken auf, in der unterirdischen Basilika Pius X. feierten wir mit Tausenden mehrsprachig Gottesdienst – aber vor der Grotte zelebrierte unser Pfarrer für unsere Pilgergruppe.

Ich erinnere mich an eine Jugendwallfahrt nach Maria Loreto in Italien, auf die ich von ebendiesem Pfarrer und von der Wiener Kirchenzeitung gesandt wurde, um eine Reportage zu machen. Mit dem damaligen Wiener Weihbischof Schönborn ging es mit dem Bus, dann zu Fuß mit Scharen junger Menschen durch ein mittelalterliches Städtchen und über in der Hitze flimmernde Felder zum Feierort. Papst Johannes Paul II. feierte mit Zigtausend Jugendlichen bis spät in die Nacht, Pilgergruppen hatten Videos vorbereitet, es ging um Erkenntnis Gottes, um Ermutigung, um Begegnung der Menschen und Völker mit Jesus. Moderne religiöse Lieder, Videowalls, eine umsichtige Organisation und eine laue Nacht im Schlafsack unter freiem Himmel, das rahmte diese Erfahrung.

Aber als ich mit den eigenen Reisen begann, da setzte ich beide Arten von Wallfahrten fort, zu Fuß und als Fernreise. Meine erste Pilgerreise ins Heilige Land, einige Wochen nach meiner Priesterweihe. Die Tage in Jerusalem mit meinem Priesterfreund. Die Wanderungen am See Genesaret, am Berg der Seligpreisungen, auf den Berg Tabor. Die nächtliche Hitze in der Jugendherberge, die gemeinsamen Tage mit dem südafrikanischen Franziskaner in Tiberias, für den ich kochte und der mir Quartier gab, und das Streitgespräch mit dem griechisch-orthodoxen Popen in Kana. Das turbulente Straßenleben von Nazaret. Die schwüle Hitze in Haifa, der Blick vom Berg Karmel. Das Bad im Jordan unter Palmen. Die Erwachsenentaufe dort, mit dem im Wasser stehenden Priester und dem untergetauchten Täufling im weißen Kleid.
Der Tempelberg von Jerusalem mit seiner Widersprüchlichkeit, und der Ölberg gegenüber. Die zauberhaften Gassen der Altstadt, und die märchenhaft mächtigen Mauern. Die düstere Stille der frühmorgendlichen Grabeskirche mit den am Dach schlafenden äthiopischen Mönchen. Und dann die Wanderung nach Jericho. Stundenlang auf einem Sandweg allein durch die Wüste, mit einer Plastik-Wasserflasche. Das gastliche Georgskloster in der Felsspalte, der stille Weg durchs Wadi Qelt, dann die geballte Hitze der Jordansenke. Die enttäuschend wenigen Trümmer des uralten Jericho. Die abenteuerliche Fahrt ans Tote Meer, das seltsame Schwimmen ohne Tiefgang.
Das alles waren Ereignisse, die mich herausforderten. Mich einlesen und informieren. Entscheiden, was zu tun ist. Die Orte auf mich wirken lassen, die Stadtmauern, die Kirchen, die Stätten der Taten Jesu. Mit den Bibelworten auf der Zunge dieselben Wege gehen. Und dann die Botschaften empfangen. Manche Abweisung, manche überteuerte Forderung. Mancher durchschaute Trick. Aber auch unerwartete Geschenke. Unglaubliche Landschaften, sagenhafte Altstadtgassen. Und immer wieder gastfreundliche Menschen, die mich aufnahmen. Die ein Wort für mich hatten. Die mich leiteten. Und sehr viel Stille.

In einem anderen Sommer stand ich in der Basilika des heiligen Nikolaus, Bischof von Myra. Ich staunte über die gut erhaltene uralte Kirche, hatte aber auch zu tun, die Heiligkeit des Ortes zu wahren vor den trampelnden Besucherströmen. Als ich einmal auf eigene Faust durch die Wüste Sinai gekommen, den Gebel Musa bestieg, allein und in der Stille der Nacht, und am Gipfel schlafend dem Sonnenaufgang entgegenträumte, da weckte mich das Touristengetrampel kurz vor Sonnenaufgang, und kurz darauf war ich schon wieder allein, in umso größerer Stille. Ich habe damals im muslimischen Land alleine Messen gefeiert auf einer im Wüstensand ausgebreiteten Bastmatte, mit Wein aus der Plastikflasche, Fladenbrot und einem Metallbecher als Kelch. Die Stille war meine Kathedrale.

Wenn aber die heilige Stadt Rom das Ziel ist, das Grab des Apostels und die ehrwürdigen Kirchen: auch dann ist das Gehen, das Wandern mir die Hauptsache. Im Unterwegssein auf das Ziel ganz bei sich sein, im Tasten nach dem, was dich anspricht, ganz du selbst, und auf einmal sind es die uralten Kirchen San Clemente mit der Kellerkirche und dem Mitrasheiligtum oder Santa Maria in Cosmedin mit dem Presbyterium, Santa Sabina mit der geschnitzten Tür und dem Blick über die Stadt oder Santa Maria Maggiore mit den Mosaiken, die dir den Atem rauben und zurückschenken zugleich. Der Atem hat später noch gereicht für eine Oberstufenklasse, die ich von Wien dorthin führte, und eine Jugendgruppe aus Villach, die letzten Winter wandernd und zeichnend, lesend, spielend und staunend die Stadt erschloß.

Der Atem, den Assisi atmet, soll nächste Woche auch die Pilger beseelen, mit denen ich den heiligen Franz suchen gehe. Wieder bekamen sie Bücher zur Vorbereitung, wieder ist gerade nur Bahn und Quartier gebucht, muß sich alles andere unterwegs finden, im Gehen, Hören und Schauen.

Pilgern IV: Ins Fleisch

Mein heutiges Reisen ist immer auch eine Art Pilgerfahrt. Nicht deswegen, weil immer ein Wallfahrtsort das Hauptziel wäre. Obwohl Paulus in Damaskus und Petrus in Antiochien, Felsenkirchen in Lalibella, Äthiopien, und die Marienkirche in Ephesus eigentlich Wallfahrtsorte sind oder waren. Oder die Moldauklöster in der Bukowina oder der Erscheinungsberg in Medujorje. Sondern mehr noch wegen des Unterwegsseins. Die Neugier und Sehnsucht nach dem Reiseziel, und die schrittweise Annäherung. Ich mache keinen Landeanflug, ich lasse mich nicht überrumpeln mit der Ankunft.

Mein Reisen muß auch für Begegnungen und Stationen Zeit haben. Deshalb fahre ich auf landesübliche Weise, also mit öffentlichen Bussen oder mit dem Zug, per Schiff oder auch einmal per Anhalter. Und natürlich immer auch zu Fuß. Als ich heuer im August von Temeswar über die Grenze in die Woiwodina kam, hatte ich Stunden zu warten an Straßenkreuzungen, wo einmal jede Viertelstunde etwas vorbeikam, meistens ein Traktor oder ein Lastwagen oder ein vollbesetzter Fiat oder ein halbleerer PKW in die falsche Richtung. Ich konnte das brettlflache Land studieren, die Mais- und Weizenfelder und die Allee entlang der Straße, die gentechnisch veränderten Saatguttafeln von Pioneer oder die Mückenschwärme in der unbewegten Gluthitze.
Und wenn es schwierig wird und du schon an ein Scheitern zu denken beginnst, dann ändert sich mit einemmal das Tempo, als wäre ein Wind aufgekommen, und am Abend desselben Tages duscht du schon behaglich in einem freundlichen Hotel am Stadtrand von Novi Sad, und machst sogar noch einen Abendspaziergang in der belebten Stadt mit dem wunderbaren Speiseeis.

So wie Weinlesen ein langsames Gehen ist, so lese ich mich an die Orte und Städte heran, mit Romanen, die dort spielen oder geschrieben wurden, mit Reiseführern und Geschichtsbüchern, mit der heiligen Schrift. So kam ich letzten Sommer ins rumänische Ruse an der Donau, weil es das Rustschuk von Elias Canetti ist, oder nach Cernovic, wo Paul Celan geboren wurde. So erschließen sich mir nicht nur die Städte und Länder, sondern die Orte erschließen mir die Literatur. Als ich am Musa Dagi stand, öffnete sich ein neuer Blick auf Franz Werfels Roman, und als ich zurückkehrte nach Antakia, bekam ich neue Augen für Petrus und Paulus, die beide in dieser Stadt waren und auch aufeinander trafen, nicht immer eines Sinnes.

Manch solcher Blick hat schon für Mitreisende ein Leben verändert. Pilgern ist nämlich gefährlich: manch einer ist verändert zurückgekommen, bekehrt, und nennt jetzt in seiner religiösen Biographie diesen Blick als Anfang, was er da gesehen hat, was ihn berührt, ergriffen: die Ausgesetztheit der Apostel, oder die gnadenlose Verfolgung der Armenier, unserer Glaubensbrüder. Der Gang Jesu durch die Straßen der Jerusalemer Altstadt mit dem Kreuz, oder der unterirdische Blick auf das Grab des Petrus. Die verstümmelten Bettler Äthiopiens oder der Blick vom Psiloritis über ganz Kreta.

Wenn man das Geführtsein als ein Pilgern ansehen mag, und das Ergriffensein im Ausgesetzten, dann werden die Mühen des Reisens und manches Risiko zu bloßen Etappen der Annäherung. Und wer sich von dem Mensch Gewordenen geführt weiß, wer aus seiner Hand entgegennimmt, was er zum Leben braucht, der wird im Pilgern ihm näher kommen, diesem ins Fleisch Gekommenen.

Pilgern als Ins-Fleisch-Kommen: Es könnte sein, dass der Papst das so gemeint hat, es könnte sein, dass auch er selbst ein solcher Pilger ist, er, der Hirt der Kirche Christi.

Samstag, 1. Dezember 2007

Zu Florjan Lipus

Endlich gehst du durchs Dorf, schreibt er, und weiter komme ich nicht.
Durch die Stadt, durch die Kleinstadt.
Mit dem Rad bin ich gefahren, über den Hauptplatz, weil ich noch einen Leuchtstift kaufen wollte, auf dem Weg zum Bahnhof. Einige Male herumgeirrt zwischen Schaustellern und Punschständen, aber das Papiergeschäft ist nicht mehr da. Wieder eines weniger, von Riesen geschluckt, wieder ein wenig moderner unser Städtchen.
Aber bin ich wirklich durchgefahren?
Kann man durch diese Stadt überhaupt durchgehen?
Ich mußte mich durchzwängen. Der Lastwagen hat die ganze Gasse versperrt. Immerhin hat sich der Fahrer entschuldigt, als ich über das Ladegut klettern musste.
Gut, ich bin jetzt sieben Jahre hier - aber auch nach 70 Jahren würde das nicht meine Stadt sein. Denn diese Stadt erzeugt Fremde.
Sehen Sie nur, wer sich da punschselig und einkaufsselig über das Pflaster schiebt. Italiener und Slowenen, Bettler aus der Slowakei, eine Inderin in goldenem Gewand, die wie eine Schaufensterpuppe reglos auf einem Potest seht, während die zustellenden Lastwagen mit laufendem Motor vor ihrer Nase warten, Fahrerblicke geradeaus.
Meine Schüler haben letzte Woche versucht, die Stadtbewohner nach ihrem Glauben zu befragen. Sie sind oft abgewiesen worden, Blödsinn, keine Zeit, Wichtigeres zu tun: also auch sie fremd hier, fremd in Gottes Schöpfung.
Wer mich kennt, wer mich grüßt: das sind die Bettler, die am Sonntag auch vor unserer Kirche sind, und manchmal ein Schüler.

Der Zögling Tjaz

Freitag, 5. Oktober 2007

Das ewige Leben der Albaner

Albanien ist das Land, wo keiner stirbt. Gestärkt von endlosen Stunden bei Tisch, bewässert vom Raki und desinfiziert vom Peperoni in den allgegenwärtigen eingelegten Oliven, werden die Körper hier so robust, daß ihnen nichts mehr etwas anhaben kann.
Die Wirbelsäule ist aus Eisen. Man kann mit ihr machen, was man will. Geht sie kaputt, läßt sie sich wieder reparieren. Das Herz wiederum kann verfetten, nekrotisieren, einen Infarkt, eine Thrombose oder sonstwas erleiden, hält aber dennoch heldenhaft stand. Wir befinden uns in Albanien, hier versteht man keinen Spaß.

Aus Staub und Schlamm besteht dieses Land, und die Sonne brennt derart, daß die Blätter der Weinstöcke rostig werden und die Vernunft dahinschmilzt. Das hat einen (wie ich fürchte, unvermeidlichen) Nebeneffekt: den Größenwahn, der in dieser Vegetation gedeiht wie Unkraut.

Das Wort Angst hat hier keine Bedeutung. An den Augen der Albaner erkennt man sofort, daß sie unsterblich sind. Der Tod ist etwas, das nichts mit ihnen zu tun hat.

"Hast du schon gehört? Unser Nachbar, Suzis Papa, ist gestern abend beim Duschen gestorben. Er ist von der Arbeit nach Hause gekommen, hat gegessen, ist unter die Dusche gegangen und gestorben."
"O nein! Er war doch noch so jung, der Ärmste!"
"Tja, da kann man nichts machen, meine Liebe. Das Leben ist voller Überraschungen."

Auf diese Weise sterben die anderen.

Ornela Vorpsi

Freitag, 31. August 2007

Wellenreiter

Das Schlingen der Wellen, die nachts zwischen den Inseln hin- und hergeworfen werden, das du fuehlst durch die Holzbank am Oberdeck, auf die du dich gekauert hast, und das du noch im Kaffeehaus spuerst neben dem Bahnhof, nach einem ganzen Tag ueber allen Wassern zwischen Dubrovnik und Rijeka, dieses Rollen und Schieben der Kraefte hat sich fortgesetzt im Fruehstueckskaffee, sodass du nachher beim Barbier kaum ruhig sitzen kannst und den Kopf hinhalten, und es dich beim Gang durch die neuerliche venezianisch-habsburgische Stadt in den Beinen zieht und dreht, die wieder von richtigen Stadthaeusern gerahmten wellenfoermigen Strassen hinauf und hinunter, und du immer noch eigentlich dich in Triest angekommen waehnst, ein Schwanken also auch in diese Richtung/

und was war denn das anderes zuletzt, schon als der Schaffner sich neben mich setzte und meine Nachbarn, portugiesische Studenten, als Terroristen bezeichnete, und sodann alle Kroaten, sich selbst aber als Cetnik, und ausserdem ein wenig verrrueckt, und mit den Augen dazu rollte, dass ihm keiner widersprechen wollte,
und erst recht, als wir ausstiegen und sofort von alten Damen umringt waren, die ihre Gaestezimmer in hohen Toenen und im besten Englisch anpriesen, waehrend oberhalb der Haeuser schon ein Buschfeuer wuetete, das mich spaetestens haette misstrauisch machen muessen, ich mich aber dennoch schliesslich einfangen liess und ihr folgte, bis ich, nach Stunden der Stadtbesichtigung, wieder unter Gebruell hinausgeworfen wurde, weil ich den inzwischen verdoppelten Preis nicht zahlen wollte, und als ich, den Rucksack wieder umgeschnallt, wiederum durch die Stadt trabte, schien es mir, als waeren alle alten Maenner der Stadt ein- und derselbe, denn alle blickten mich gleich vorwurfsvoll und verstaendnislos an und sahen dabei auf die Uhr, wie lange ich wohl noch hier bliebe/

trotz vieler Fehlleitungen erreichte ich doch die Jugendherberge und bekam ein Bett neben 6 anderen, mit stinkendem Gewand ueber den Boden verstreut, aber die Mitbewohner kamen erst nach und nach einzeln schweigend, nach Mitternacht, waehrend eine ganze Schar von Schuelern, Maedchen und Buben, um 1/2 1 unter lautem Geschrei, Gelaechter und Tuerknallen in die Nebenraeume einzog, bis ich wutentbrannt in der Unterhose hinueberlief und sie auf Englisch zurechtwies, bis die Kinder ruhig wurden und die Betreuer betreten zu Boden sahen oder ins Leere, auch am naechsten Tag noch, beim Fruehstueck/

und das Schiff selbst wie ein Jahrmarkt, eine Buehne fuer skurrile Gestalten, die unter der Sonne aufzogen und sich da und dort niederliessen, in deutschen und amerikanischen Toenen zumeist, beginnend bei jenem aelteren deutschen Paar, das sich neben meinem Rucksack aufgepflanzt hatte, als ich eine Wasserflasche holen war, und mich von der Bank weisen wollte, junger Mann, hiess es, bis zu den finnischen Burschen und Maedchen, die, auf Matten am Eisenboden gelagert, lautlos Karten spielten, oder jener jungen Frau, die auf der Nebenbank las wie ich, und deren kleine Tochter mit grosser Anteilnahme die Vorgaenge am Schiff beobachtete, die aber, als ich sie bat, meinen Rucksack zu beobachten, nicht einverstanden war, wie auch jenes freundliche Paar gegenueber, die sich zwar bereit erklaerten, aber nach 10 Minuten im Speisesaal gegenueber von mir Platz nahmen mit derselben freundlichen Mine wie zuvor, und mich also wiederum preisgegeben haben, was fuer ein Tag/

und wenn du Mutter und Toechterchen nocheinmal am Bahnhof, zum Fruehstueck und dann auch noch in der Kirche wiedertriffst, ohne dass ein Wort gesprochen wird, dann siehst du, dass du, den Kraeften des Grundes ausgesetzt, wohl allein bestehen musst, auch im Taumel der Heimkehr

Mittwoch, 29. August 2007

am Grunde

Angefangen hat alles damit, dass einige dieser wunderlichen Pflanzen mit den weiss/gelb/braungestreiften fleischigen Blaettern, ewigen Gezeiten ueberlassen, mit einemmal ueber den bemoosten Stein zu laufen begannen, mit Krabbenbeinen, oder vielmehr, wie die winzigen schlanken gruenen Fischlein ploetzlich alle in die Luft springen wollten, als haette sie ein tiefer Impuls zum Uebertritt der Dimensionen veranlasst, welchen ich nicht allzutief unter ihnen vermutete, vielleicht in den eigensinnigen Burschen, die bei uns Streifen- oder Sonnenbarsche gewesen waeren, die ihre Ufersteine verteidigten. Aber auch diese aehnelten eher Krokodilen, da sie sich am Boden aufpflanzten, als wuerden sie auf 4 Beinen stehen und grimmig eine Stelle vor ihnen fixieren, als kaeme gerade um diese Ecke die naechste Beute. Ich weiss nicht, ob es dieselben waren, die, wenn sie doch einmal um den Stein herum jagten, sich immer wieder auf den Boden warfen, es schien wie seitlich, und dann immer mich aus dem Wasser heraus beobachteten, genauso wie es meine Katze tut, wenn sie schlechtes Gewissn hat oder Hunger, oder beides.
Ich will gar nicht von den biegsamen Laengsgestreiften reden, die gelassen die Raeume erkunden, oder von jenen Gruenlich-grauen mit den glatten Baeuchen, die in Gruppen weiter draussen vorbeizogen: und ein solcher war es, der die armen Kleinen zu ihren wahnwitzigen Todesspruengen veranlasst hatte, ich wurde Zeuge einer solchen flitzenden Jagd ueber die Ufersteine hinweg, ich weiss nicht ob aus Hunger oder Schadenfreude, und, als sich das Wasser wieder beruhigte, sah ich noch diese leuchtend Roten, die, ein wenig zusammengerollt, im Moos sassen wie auf Ellbogen gestuetzt, immer wieder an der gleichen Stelle, als wollten sie sich sonnen, und leuchteten dabei wie ein Schleimpilz oder ein giftiger Frosch.
Ich habe kein Wort von den Seeigeln erwaehnt, die ich drueben gesehen hatte, wo die Leute baden, um meine Eltern nicht zu beunruhigen, oder die Mattschwarzen, die dann und wann vorbeischaukeln wie sonntaegliche Messbesucher, oder gar diese ganz silbrigen Wesen, die fast unbeweglich flach am Stein liegen, die Tropfenform scharf schwarz eingerahmt und im Brennpunkt ein dunkles Fleckchen, weil ich mir vorgenommen habe, nur solange hier zu bleiben, bis mein Handtuch trocken waere, nachdem ich fruehmorgens, noch ohne das Geschnatter der vereinzelten Badegaeste oder der ersten Bumm/Tschimm-Klaenge aus den allmaehlich erwachenden Nachtlokalen wie ein Tiger lautlos ueber all das hinweggeglitten bin, ohne mich um diesen Tiergarten zu kuemmern, und eine Spur gezogen habe hinueber zum entferntesten Badeplatz auf der anderen Seite, und bald zur Pension zurueckzukehren, alles fertig zu machen und das letzte Stueck nach Dubrovnik zu fahren, dem letzten Ziel meiner verzweigten Reise mit den Abenteuern, die im Grunde geschehen, wo man sie kaum sehen kann/

denn hier bin ich gestrandet, wo mich keiner mehr mitnehmen wollte, da ich vom Berg der Muttergottes kam, bestiegen mit blossem Oberkoerper in der Mittagssonne und im Bewusstsein, dass ich wohl wuesste, was ich sie fragen wuerde, sollte sie mir erscheinen, denn immerhin ist es jetzt dazu gekommen, dass ich selbst erschienen bin in M., ueber eine ganze Anzahl von Grenzen hinweg/

und bist du denn schon einmal nach Sonnenuntergang, in einem Ort wie Neum auf der Strecke geblieben, die steile Strasse heruntergetrabt auf ein unsichtbares Meer zu, und, nur um eben dieses zu sehen, das du sicher hier wuesstest, immer naeher gekommen, wieder und wieder gestreift von Musiklaerm und Scheinwerferlicht, und, eingehuellt von Schwaden vom Holzkohlengrill, ueber den hellerleuchteten Autoparkplatz ueber knirschendnm Schotter gestiegen, dann muesstest du wissen, wie einen der Schwindel ueberkommt, wenn du noch immer nicht den Grund erreicht hast, denn tiefer als das Meer kann doch nichts sein, ob da ueberhaupt noch irgendetwas ist, und dann doch, zentimeterweise, in die Finsternis hinuntergetaucht bist, ueber rutschigen Kiesel, um dann, am leicht schaukelnden Boot, im Mondschein die glatte Oberflaeche auszumachen, die lautlos den von Hotelstraenden umgebenen Platz erfuellt und die Bucht bis zur Landzunge hinueber, die schon Kroatien gehoert,
denn nur diese paar Kilometer bosnischer Adriakueste haben mich heute haben wollen,
immerhin.

Stari Most, Bruecke zu Mostar

Medjugorje, Kreuzberg

Neum, Bosnien

Neum

Dubrovnik

Montag, 27. August 2007

For Janek

Wahrscheinlicher aber ist, weil er laengst beschlossen hatte, Czernovitz zur Prachtstadt auzubauen, zu letzten Bastion des zivilisierten Europa, zur Kaiserstadt, zu einer Stadt mit Theaten und Konzertsaelen und einer Oper und Wiener Kaffeehaeusern und deutschen Schulen und eine deutschen Universitaet, deren Bauplan schon vorlag. Was hatte der Kaiser nicht alles getan, um diesen Analphabeten die deutsche Sprache beizubringen. Und stimmte es etwa nicht, dass Oesterreich am Pruth die Russen und die Tuerken aufgehalten hatte, ehe diese Horden Europa ueberfallen konnten, Frauen schaendeten, Maennern die Schwaenze abschnitten, Fensterscheiben zerschlugen und Strassenlaternen, ehe sie alles bepinkelten und zerrissen, was der Kaiser im Namen Gottes und Jesus Christus zu einem Reich zusammengebastelt hatte, das sich Europa nannte. Denn Europa lag in Oesterreich. Oesterreich war das Herz. Oesterreich war auch ein Bollwerk gegen Unsittlichkeit, gegen Aberglauben und Hexerei. Und Czernovitz war der Arsch Europas, die letzte Festung seiner Kaiserlichen Majestaet. Von den Ueberresten der Burg von Caecina am linken Pruthufer konnte der Kaiser bis Asien blicken. Hinter Czernovitz fing der russische Winter an, dort lauerten riesige Schneestuerme, asiatische Steppen, Cholera, Typhus, Laeuse, die Pest, Kosaken und wer weiss was noch.

Edgar Hilsenrath, Jossel Wassermanns Heimkehr

Samstag, 25. August 2007

Fuer Gefestigte

Und so muesste die Theorie der Fraglichkeit aussehen, nach einem ganzen Tag im Stadtpark, lesend und schreibend, nach einem langen Frühstück mit dem Regens des Priesterseminars von Sarajevo, in dem ich wie ein König residiere, wie eine Antwort, warum ich nicht als Priester erkenntlich bin und dermaßen willkürlich reise :
  • sie muesste an mehreren Bibelabschnitten entzuendet werden
  • und ontologisch verortet
  • und sodann, das waere die Hauptsache, an Erscheinungen des heutigen Lebens dargestellt werden und somit erwiesen - und daraus ergaeben sich die Schwierigkeiten, sowohl zwischen den Erscheinungen und den Bedeutungen, zwischen Fakten und Sinn zu unterscheiden, wie zugleich diese Unterscheidung selbst wieder fraglich zu machen, wie sich das fuer eine einigermassen ordentliche Theorie der Fraglichkeit gehoeren wuerde.
Und all das wuerde mit der Tatsache, dass ich an einem Sommertag in Sarajevo im Kaffeehaus sitze an der Ferhardija, und den vorbeischlendernden Menschen zusehe und ihrer freundlichen Ruhe, und auch von ihnen am Rande wahrgenommen werde wie von dem kleinen Maedchen, das lauernd beobachtet, wie seine Eltern die Speisekarte ueberfliegen und dann doch weitergehen, und mir einen enttaeuschten Blick zuwirft und meine Erwiederung mit einem Laecheln beantwortet, wodurch blitzartig ein Einverstaendnis entstanden ist,
also gar nichts zu tun haben und zugleich ganz damit uebereinstimmen, denn wenn eine Theorie nicht der Wirklichkeit abgeschaut ist, was soll sie dann/

Diese Theorie koennte bei Abraham anheben, der voellig unvermittelt Gottes Stimme hoert, und der Midrasch fuegt immerhin eine Geschichte ein zur Bezeugung seines strikten, nirgendwo ableitbaren Monotheismus, der dem Denken Koenig Nimruts und seiner Zeit doch voellig entgegenstand, und fuer den sein Auftrag jedenfalls ein ploetzlich ueber ihn hereinbrechendes Ereignis ist, dem er sich stellt, obwohl es ganz und gar unabsehbar ist/

Sie wuerde aufweisen, wie fuer ihn immer wieder alles auf der Kippe steht, angefangen beim Aufbruch, bei der Hungersnot in Kanaan, in Aegypten, beim Besuch der Gottesmaenner (deren Existenz zwischen Einheit und Differenz oszilliert), und von da an immer deutlicher gerade die Wahrheit seiner Verheissung, von Sara angezweifelt und eigenmaechtig interpretiert, und, was am Spiel steht fuer ihn und alle Spaeteren, immer weiter auf die Spitze getrieben wird, bis zuletzt, am Moria, ihm selbst mit dem Messer in der Hand die Wahrheit herauszustellen in die Hand gegeben ist:/

wie also, bereits in diesem ersten Durchgang, das ploetzliche Gewahrwerden des Offenen des Abgrunds dessen entschiedene Beantwortung erfordert, und wie das ganze glaeubige Menschenleben als schrittweises Zugehen gerade auf diese Begegnung verstanden werden kann,
mithin als Vorgang der Aussetzung des Menschen an die immer weiter um sich greifende Fraglichkeit der Welt../

Die Eroerterung wuerde fortfahren mit den Etappen der Wahrnehmung steigender Fraglichkeit des Volkes der Hebraeer, die in dem Gastland von Bevorzugten zu Slkaven werden und nach und nach dazu gezwungen werden, Stellung zu nehmen in ihrem Stolz und Selbstverstaendnis als Glaeubige, und noch deutlicher im Geschick des Mose, dessen blosse Existenz von Anfang an auf der Kippe steht (welch hervorragende Metapher fuer die Fraglichkeit/das auch Nichtseinkoennen des Seienden) und sich bald in den Zwiespalt zwischen dem koeniglichen Adoptivsohn und der Verwandtschaft mit Sklaven, spaeter in den zwischen einem freien Wuestensohn und den Wirrnissen in Aegypten, und zuletzt noch viel staerker in den zwischen der Wahrheit seines Auftrags und der voelligen Widrigkeit seiner gesamten Wuestenumgebung und deren Deutung durch seine Bezugsgroesse, des gerade auserwaehlten Volkes verwandelt,
eine Zwiespaeltigkeit, die solcherart den Gottesglaeubigen ueberhaupt, und besonders ihren Propheten als zutiefst zueigen nachhaltig bezeugt waere./

Es waere in der Folge ein leichtes, an weiteren biblischen Zeugnissen die Theorie der Fraglichkeit weiter auszubreiten und sie nicht nur in der Fraglichkeit der eigenen Existenz des Glaeubigen, seines Angesprochenseins durch Gott und der Wahrheit des goettlichen Wortes darzustellen,
sondern sie etwa in der Frage nach der Vernunft von Sinn bei Hiob
oder auch in der Frage nach der Moeglichkeit von Gebet und Lobpreis Gottes am Psalm 145 weiter zu veraesteln und spaeter wieder zu systematisieren./

Am Christusereignis des NT wuerden sich alle Spielarten der sich am Glaubensweg immer weiterentfaltenden Fraglichkeit in den Erfahrungen der Aposteln wieder finden lassen, die ihr Zuhause und ihren alten Glauben zuruecklassen und mit Jesus einen neuen Weg betreten, der sie alle Sicherheiten und Vorverstaendnisse kosten wird bis dorthin, wo er selbst ihnen genommen wird und darauf, als sie im Zustand aeusserster Irritation, auf der Kippe schlechthin, beginnen wollten, aufzugeben und sich abzufinden,/
wiedergeschenkt wird als derselbe und ein Anderer, sodass ihnen sozusagen Hoeren und Sehen vergeht und erneuert wird als eine neue Taufe ein fuer allemal./

Solches liegt uns in der Wiege, und wen sollte wundern, wie Paulus zu ringen hat um Sinn und Logik von Wort, Gesetz und Auftrag, um Glauben fuer alle und fuer einzelne, und wie spaeter die Theologen kaempfen um den Sinn dieses Weges der Fraglichkeit in der griechisch/philosophischen Welt/
wie dabei in gaenzlich unerwarteter Steigerung zuerst die Person Christi selbst fraglich wird, sodann der Geist und schliesslich die Einheit und Freiheit Gottes selbst, und schliesslich gar seine Bezeugung durch heilige Bilder und seine Verehrung durch ein geeintes Volk./

Von den Volksmissionen bis zu den Kreuzzuegen und den Wirrnissen der beginnenden Neuzeit, und erst recht von den tiefen Spaltungen in der Kirche selbst fuehrte der Aufweis der sich vertiefenden Fraglichkeit bis zur Vollendung der Entfremdung zwischen einem gottgemaessen Leben und der Selbstgewissheit einer aufgeklaerten Welt geradewegs in die heutigen Fragestellungen, wie denn ueberhaupt Gott sein koenne angesichts einer auch ohne ihn bestens orientierten Welt./

Somit haette sich im 1. Abschnitt der Theorie die Beweislast umgekehrt, und Welt und moderne Wissenschaft wuerden durchsichtiger werden in ihren Anstrengungen um Unfraglichkeit, also um Gewissheit und Evidenz,
      die bei Descartes erstaunliche selbstmaechtiger Selbstsetzung des Cogito anhuebe,
        sich in den philosophischen Systemen des 18. und 19. Jhts veraestele
            und in der heutigen weitgehend unreflektierten Selbstgenuegsamkeit wissenschaftlichen Forschens wie auch unter dem Stichwort Demokratie zusammengefassten Art abendlaendischer gesellschaftlicher Verfasstheit verfestigt haetten./
Wollte man nun das Angedeutete ontologisch betrachten, so wuerde die wichtigste Aufgabe in der Darstellung der in sich selbst bestehenden Unfraglichkeit des Grundes liegen, in dessen Mitteilung an das Seiende und dessen Antwort als Teilhabe und Frage nach dem Grund sich schliesslich das ganze nun beschrittene Feld der Fraglichkeit oeffnen wuerde, sodass eben dieser Grund zumal als Seinsgrund wie auch als Erkenntnisgrund auftraete,
wie seinerseits das Seiende zugleich durch seine Existenz darin verankert
und durch seine zunehmende Fraglichkeit davon entfernt wird, wenn man so sagen kann./

Und so wuerde zuletzt das von der Geschichte so teuer erkaufte Andersseinkoennen des Menschen und seiner Welt folgerichtig immer schwanken zwischen der ganz diesseitig verorteten Fraglosigkeit
und dem im eigenen Vollzug stattfindenden Zuruecksinken in ausweglose tiefe Fraglichkeit/

und darum bereitwillig sofort wieder preisgegeben werden,
als koennte man in einem Strom der stetigen Steigerung und Entfaltung des Immer-Selben leben wie die am Ferhardija-Boulevard defilierenden modernen Menschen,
als gaebe es die vielleicht von Minen verunstalteten Menschen nicht,
die dann und wann an unseren Tischen erscheinen und ihren Anteil wollen am Selben,
all dies gerade in der Mitte zwischen dem grossen Park mit seinen Grabmaelern und dem gelben Gras
und der B., die von den Osmanen hinterlassen wurde
wie der nur halb vollzogene Glaube, der diese Menschen von ihren Nachbarn unterscheidet,
sodass sie sich seit wenigen Jahrzehnten als Nation bezeichnen
und uns erst richtig fremd geworden sind,/

obgleich sie derart natuerlich und unaufgeregt durch den Samstagnachmittag schlendern und einander ungekuenstelt studentisch begruessen mit Wangenkuesschen,
an Buecherverkaufsstaenden am Marktplatz,
die doch damals, als Krieg war und 3 Jahre lang taeglich Feuer und Salven waren in der Stadt,
als Schulkinder sich morgens von der Mutter verabschiedet haben,
als wuerden sie einander niemals lebend wiedersehen,
tagtaeglich,
als sie nur Wasser holen gingen ins naechste Stadtviertel:
auf der Kippe also/

und fremd schon waren als Bogumilen, die in keiner Kirche Heimat hatten finden koennen und so dem Islam erst richtig ausgeliefert waren, als die Osmanen kamen,
und heute muehen sich die Mullahs um sie,
und auch die, scheints, grossteils vergeblich./

Natuerlich handelt es sich dabei nur um die Theorie einer Theorie,
aber das wird jeder bemerkt haben/

Sarajevo

wenn das keine Stadt des Todes ist
und des Lebens gleichermassen

der Regens hat von Selbsterziehung gesprochen:
wir koennen ihnen nicht helfen, ohne Probleme zu leben
aber sie sollen lernen, mit Problemen zu leben
offen und stets weiter lernen

das ist wie der Eingang zu einer Theorie der Fraglichkeit
also auch hier/

bei Milo Dor lese ich, ueber wieviele Kippen die Geschichte gelaufen ist
und wie ueberall es auch haette anders kommen koennen
dass zuletzt der Thronfolger und seine Gemahlin aufgebahrt im Zimmer des Rathauses zu liegen kommen
und dass schliesslich das Abendland daran unterging/

bei Dzevad Karahasan lese ich, wie ein Freund dem andern zusieht
beim Bau der Artilleriestellungen
auf den Huegeln um die Stadt
wozu das gut sei?
Manoever oder sowas
(die Granateneinschlaege sind auch heute noch zu sehen)

als haette die Geschichte gerade das wollen
und sich mutwillig ueber alle Unwahrscheinlichkeiten hinweggesetzt
als haette sie schon laengst ihr eigenes Ende gesucht
als wuerde dieses Ende bereits in ihr wohnen
von allem Anfang/

von der Kippe gesprungen




Sarajevo-Stadtpark

Ende und Anfang

Ein paar Stunden genuegen, Altoesterreich zu finden, denn in den meisten Laendern liebt man Geschichte mehr als bei uns.
Aber die wirklichen Wunder warten in den Seitengassen
  • wie die riesige Synagoge im maurischen Stil
  • durchquere, was du gesehen, am Rueckweg
  • eine offene Hoftuer, ein
Holzkreuz, an der Wand aufgestellt, so wie jenes, das am Opernplatz gestanden sei/

und schon bin ich mitten in der Revolution:
eine Kapelle
Gedaechtnisraum
Dr. Orban erspaeht mich
und ich werde Zeuge der 7 Tage-Revolution des Dezember 1989
hier in Timisoara/

auf Kinderzeichnungen:
Stauenen ueber ploetzliche Menschenmengen auf
sonst bekannten Plaetzen
und zugleich ueber Einzelne:
  • Soldaten
  • Panzer
  • Tote
und dann der Film:
vom Pastor, der nicht versetzt werden wollte
(ein Einzelner)
von den zuerst zoegerlichen Zusammenrottungen
vom ploetzlichen Interesse der Macht
und dann der Alltagsbuerger, die nach und nach
herauskamen
von den Forderungen an das Regime, mit einemmal erwacht und spruchfertig
vom Taktieren der Machthaber und den Aufstaenden in den anderen Staedten/

und mit einem Schlag stehe ich in diesen Vormittagsstunden wieder vor dem Tod:
sie hatten die Erschossenen verbrennen wollen
und die Aufzeichnungen der Krankenhaeuser vernichten
doch die Menschen hielten zu ihren Toten
wir lassen uns den Tod nicht nehmen
so hat der Diktator verloren
halsstarrig bis zuletzt
am Tod ist er zerbrochen



Timisoara, Rumaenien

Freitag, 24. August 2007

Charles Simic

Mein lautloses Gefolge

Niemals wurden wir foermlich bekannt gemacht.
Ich hatte keine Vorstellung von ihrer Zahl.
Sie waren wie ein diskretes Gefolge
Aus heimischen Engeln und Daemonen,
Die ich alle schon frueher getroffen
Und seither fast ganz vergessen hatte.

In gefaehrlichen Zeiten machten sie sich rar.
Wohin verschwanden sie alle?
Fragte ich einmal nachts einen Verbrecher,
der mir ein Messer an die Kehle hielt,
Aer auch er war eine Spukgestalt
Und liess mich wortlos gehen.


Es war verwirrend, richtig erschreckend,
Ans eigene Alleinsein erinnert zu werden,
So wie man ein Kinderbuch oeffnet -
Weil man nichts Besseres zu tun hat - und darin liest, dass die Sterne
Es sich leisten koennen, fuer eine Reise zu uns
Auf einem Lichtschimmer Jahrhunderte zu vergeuden.
logo

ferne

besucher

Sobald sich aber einer dem Herrn zuwendet, wird die Hülle entfernt. Der Herr aber ist der Geist, und wo der Geist des Herrn wirkt, da ist Freiheit.

2 Kor 16f

Please Leave A Message Here!

Aktuelle Beiträge

essen und leben
beim nepalesen in lissabonn gabs zum willkommen das: am...
weichensteller - 24. Aug, 07:41
heimkehr 2
habt geduld, es kann ein wenig dauern... inzwischen...
weichensteller - 19. Aug, 00:29
heimkehr
es war schon der letzte zug in der nacht, in den ich...
weichensteller - 16. Aug, 21:25
beislszene
ein halbes dutzend leute an plastiktischen, einige...
weichensteller - 16. Aug, 11:16
ein baustil,
den es nur in portugal gibt, ist die manuelik. in dem...
weichensteller - 15. Aug, 10:28

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Suche

 

Status

Online seit 6460 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 24. Aug, 07:41

Credits

Knallgrau New Media Solutions - Web Agentur f�r neue Medien

powered by Antville powered by Helma


xml version of this page

twoday.net AGB

Free counter and web stats

Balkan diesmal
Fremdgang
Grund und Boden
Pilgern
Portugal
Vom Ende und dem Rest der Dinge
Wo alles aus ist
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren